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GC Fussball | 26.11.2021

KALY SÈNE, DER LÖWE

«J'ai parlé à mon agent et j'ai compris que c'était un sacrifice que je devais faire.» Es ist im Frühling 2020, als Kaly Sène mit seinem Berater spricht und zum Schluss kommt, dass es dieses «sacrifice», dieses Opfer braucht. Ein Opfer, oder besser: ein weiteres Opfer, um ganz nach oben zu kommen. Zypern statt die Schweiz, First Division statt Super League, Mittelmass statt Spitzenklub.

Soeben hat Kaly von der Turiner U19 zu den Profis des FC Basel gewechselt, mit der Idee, seine Fussballkarriere so richtig zu lancieren. Doch in der Schweiz bekommt er als Nachwuchsspieler keine Spielberechtigung. Und so landet er beim einzigen Klub, der sich bereiterklärt, ihn für ein halbes Jahr zu übernehmen: Omonia Nikosia. «Ich wollte nicht gehen», sagt Kaly. «Ich wollte nicht nach Zypern.» Erst das Gespräch mit seinem Berater zeigt ihm damals, dass dies im Moment wohl der einzige Weg ist. «Der Plan war einfach: sechs Monate gut trainieren, gut spielen und dann so schnell wie möglich wieder zurück in die Schweiz.» Und so zieht der damals 18-Jährige ein zweites Mal in seinem Leben in ein Land, das ihm fremd ist, in dem er die Sprache nicht spricht und wo er keine Freunde hat. Manchmal müsse man eben Opfer bringen. 

Am Anfang läuft es ganz gut in Nikosia. Er fühlt sich wohl, steht in jedem Spiel auf dem Feld und schiesst auch schon bald sein erstes Tor. Doch dann kommt Sand ins Getriebe. «Ich habe mich mit dem Trainer nicht gut verstanden. Er setzte nicht mehr auf mich. Und ich war nicht mehr zufrieden. Ich will spielen. Ich bin nicht glücklich, wenn ich nicht spielen kann.» So sehr liebt er den Fussball. Und man erhält den Eindruck, dass Kaly nicht auf die Karte Fussball setzt, um ein Star zu werden, sondern allein, um rund um die Uhr seiner Leidenschaft nachgehen zu können. «Auf dem Feld kann ich alles vergessen. Ich muss mich nur auf eine einzige Sache konzentrieren: dem Ball hinterherrennen, um zu gewinnen. Fussball ist das Einzige, was mich gleichzeitig glücklich und traurig machen kann. Wenn ich älter werde, wird sich das vielleicht ändern – aber im Moment lebe ich voll und ganz für den Fussball.»

Zu allem Übel befindet sich die Welt zu seiner Zypern-Zeit inmitten einer Pandemie, sodass er in seiner Wohnung gefangen ist und die Zeit mit der Playstation und mit Manga-Binge-Watching totschlägt. Tagein, tagaus. Schon zuvor sei er sehr gut gewesen auf der «Play». Aber auf Zypern habe er sein virtuelles Spiel perfektioniert, sagt er, und sein breites, gewinnendes Lachen erhellt sein Gesicht. Ein Journalist hat einst über ihn geschrieben: «Wenn Kaly lacht, dann geht die Sonne auf» – besser kann man es nicht beschreiben. Er wirkt sympathisch, offen, interessiert, ruhig, bescheiden und vor allem: tiefenentspannt, wie er dasitzt, in seinem GC Trainingsanzug und mit seinen Dreads, die ihm frech ins Gesicht hängen. Man fragt sich, ob hier wirklich der Spieler mit der Nummer 17 sitzt, der im Spiel mit schier unerschöpflicher Power übers Feld jagt, Gegner unter Druck setzt, sprintet, tacklet, grätscht. «Ich bin ein Löwe», strahlt er. Ein Spitzname, den ihm seine Freunde gegeben haben. «Der Löwe sitzt in seiner Ecke und verhält sich ruhig, beinahe träge. Aber dann, auf der Jagd, wird er zum Raubtier. Bei mir ist das gleich: Wenn ich auf dem Feld bin, bin ich ein anderer Mensch. Das ist Teil meiner Persönlichkeit.»

Kaly wirkt so unbekümmert, dass man beinahe den Eindruck erhalten könnte, als kenne er keine Mühsal, als falle ihm immer alles wie von selbst in den Schoss. Man tut sich schwer, diese Leichtigkeit, die er ausstrahlt, mit seinen Erzählungen über seinen Werdegang in Einklang zu bringen. Immer wieder spricht er dabei von harter Arbeit, Verzicht, Einsamkeit und von Opfern, die man eben bringen müsse, wenn man dort hinkommen will, wo er hinwill.

Senegal

«Bereits als kleiner Junge habe ich in jeder freien Minute Fussball gespielt», sagt er und erzählt mit grosser Offenheit von seiner Kindheit in Dakar und wie es dazu kam, dass er als Teenager sein geliebtes Zuhause, sein geliebtes Senegal verlassen hat; den Ort, wo er sich wohl und geborgen fühlt, wo seine Familie wohnt, wohin er jedes Jahr während der Sommermonate zurückkehrt. 

Seine Eltern seien sehr jung gewesen, als er 2001 zur Welt kam. Als sie sich trennen, wächst er zuerst allein bei seiner Grossmutter auf. Später kommt sein Vater aus Marokko zurück. Gemeinsam mit dessen neuer Frau und bald mit sechs weiteren Kindern wohnen sie alle zusammen. Sie seien nicht reich gewesen, aber es habe Kaly an nichts gefehlt. Die Zeit beschreibt er als glücklich und «ganz normal»: Er hat viele Freunde, geht viel aus und besucht die Schule. Er sei ein guter Schüler gewesen. Und hätte er nicht den Weg zum Fussballprofi eingeschlagen, so wäre er heute vielleicht Tierarzt. Er liebt Tiere.

Und natürlich liebt er den Fussball. Am Anfang spielt er nur aus Freude. Als sein Talent entdeckt wird, wird es ernster und er wird in die Fussball-Akademie von Salif Diao aufgenommen – einem jener Helden, die an der WM 2002 mit Senegals Nationalteam sensationell die Franzosen geschlagen haben.

Italien

Senegal ist zwar ein fussballverrücktes Land. Die Chance aber, Profi-Fussballer zu werden, ist in Europa ein x-Faches grösser. «Und das ist es, was ich wollte.» So kommt, was kommen muss: Der Tag, an dem er sich entscheidet, für seinen Fussball ein erstes grosses Opfer zu bringen – die Übersiedlung nach Europa. Da seine Mutter vor einigen Jahren zu ihrem neuen Partner nach Turin ausgewandert ist, führt ihn der Weg nach Italien. Und so zieht der damals 15-Jährige ein erstes Mal in seinem Leben in ein Land, das ihm fremd ist, in dem er die Sprache nicht spricht und wo er keine Freunde hat.

«Das erste Jahr war hart. Ich wollte in den Senegal zurückkehren, fühlte mich allein, habe praktisch nichts gemacht. Ich bin nicht ausgegangen, war immer zuhause, habe Playstation gespielt. Jeder Tag war gleich. Ich habe mich gelangweilt. Nur zum Fussballspielen habe ich die Wohnung verlassen. Dreimal pro Woche Training, am Wochenende das Spiel.» Natürlich habe es da schwierige Phasen gegeben. Aber am Ende des Tages sei wichtig, dass man durchhalte und nicht vergesse, gut zu arbeiten. Das habe er getan. Er habe die Herausforderung angenommen. Und mit der Zeit sei es besser geworden. Er habe langsam die Sprache gelernt, Freunde gefunden und sich in Italien richtig eingelebt. Mit dem neuen Zuhause kommt die Unbeschwertheit zurück. 

Er spielt damals im Juniorenteam eines kleinen Turiner Vereins. Mit der Zeit beginnen sich höherklassige Klubs für ihn zu interessieren. Einer seiner Trainer sagt eines Tages, dass Kaly in ein, zwei Jahren vielleicht sogar einen Vertrag bei Juventus Turin unterschreiben könne. «Ich habe mir damals nicht viel dabei gedacht. Das war sehr weit weg für mich.» Das glaubt man ihm auch, denn Kaly ist kein Träumer, er ist ein Arbeiter. Auch heute noch: «Wenn ich in einem Spiel zwei Tore schiesse, dann arbeite ich dafür, beim nächsten Mal drei zu schiessen.» Er gebe immer sein Bestes. Und dann schaue er, was passiert. Wenn der Erfolg kommt, gut. Wenn er den Durchbruch schafft, umso besser. Wenn nicht, dann wolle er wenigstens sagen können, dass er sein Möglichstes getan habe. «Ich will nichts bereuen.»

Mit 17 läuft Kaly in seinem Klub für die erste Mannschaft auf. Er ist der Jüngste im Team. «Damit hat alles angefangen», erzählt er. «Viele Agenten sind auf mich zugekommen und brachten mich in Kontakt mit italienischen Profi-Vereinen.» Er absolviert zahlreiche Probetrainings bei so namhaften Klubs wie Sampdoria Genua, Sassuolo Calcio oder Torino FC. Am Ende macht Virtus Entella aus der Serie B das Rennen, «weil ich mich im Probetraining in Chiavari wohlgefühlt habe und weil es einfach stimmte». 

Juventus

Doch dann kommt der letzte Tag des Transferfensters. Und mit ihm ein Agent von Juventus Turin. Da ist sie, die Chance. Die Chance, für die er so vieles aufgegeben hat. Keine Sekunde habe er gezögert. «Und Turin machte es so viel einfacher als Chiavari, weil ich in meinem Umfeld, weil ich bei meiner Mutter, weil ich zuhause bleiben konnte.» Dieses Mal war kein Opfer notwendig.

Juventus Turin. Bonucci, Chiellini, Christiano Ronaldo. Zum ersten Mal schimmert das Leben durch, das Kaly so gerne erreichen möchte. Er spielt in der U19 und es läuft richtig gut. Er spielt und schiesst Tore. Und er trainiert regelmässig mit den Profis. Natürlich sei es genial und auch ein wenig unwirklich gewesen, mit Weltstars zu trainieren, die er bis vor Kurzem nur vom Fernsehen kannte. Da versuche man schon, sich das eine oder andere abzuschauen. «Aber ich bin niemand, der viele Idole hat. Ich spiele für mich. Ich versuche nicht, jemand anderen nachzuahmen. Ich versuche, ich selbst zu sein.»

Für den Sprung zu den Profis reicht es am Ende noch nicht. Ob ihn das enttäuscht habe? «Ehrlich gesagt, habe ich nie die Erwartung an mich gestellt, mich in die erste Mannschaft zu spielen.» Schliesslich sei er von einem kleinen Klub gekommen, der irgendwo in der fünften Liga spielt. Es habe bei Juve viele andere junge Spieler gegeben, die schon viel länger im Klub waren, die die Welt des Fussballs viel besser kannten und die auch deutlich besser ausgebildet waren als er. «Mein Ziel war es vielmehr, hart und in Ruhe zu arbeiten, von der professionellen Fussballausbildung zu profitieren und jeden Tag etwas besser zu werden. Zu hoch gesteckte Ziele bringen nur unnötigen Druck mit sich. Ich gehe Schritt für Schritt.» 

Zürich

Sein nächster Schritt führt in zum FC Basel. Aber nach nur wenigen Stunden in der Schweiz folgt aufgrund der fehlenden Spielerlaubnis der grosse Dämpfer: das genannte Gastspiel in Nikosia. Ein halbes Jahr später die wenig erfolgreiche Rückkehr ans Rheinknie. 

Und dann endlich: das Angebot des Grasshopper Club Zürich. Schon wieder am letzten Tag eines Transferfensters. «Jeder kennt GC. Der Verein hat eine grosse Vergangenheit und viele Titel gewonnen. Ich habe gesehen, dass sie eine junge Mannschaft haben. Und da habe ich mir gedacht, dass ich hier als ebenfalls junger Spieler vielleicht bessere Chancen habe, Spielzeit zu bekommen und mich durchzusetzen.»

Er sei vom ersten Tag an sehr gut aufgenommen worden, vom Klub, vom Trainer, vom Staff und von den Mitspielern. Bei seiner Ankunft habe er sofort die gute, positive Atmosphäre gespürt, die im GC/Campus und im Team herrscht. Das ist es, was er will – was er vielleicht auch braucht, damit es läuft. Das Vertrauen und die Vertrautheit. Sich zuhause fühlen. «Ich fühle mich unglaublich wohl hier. Ich habe keine einzige Sekunde bereut, dass ich hierhergekommen bin. Heute weiss ich, dass der Wechsel zu GC der richtige Entscheid war.» Er lacht übers ganze Gesicht.

Und auch auf dem Platz läuft es gut. Gleich in seinen ersten Spielen schiesst er Tore. Er überzeugt nicht nur den Verein, sondern auch die Fans. Und die Öffentlichkeit beginnt, sich für den jungen Spieler zu interessieren. «Ich freue mich, dass ich mit meiner Leistung etwas zurückgeben kann für das Vertrauen, das mir der Trainer und der Verein schenken.» 

Er spielt und er ist glücklich. Die Zufriedenheit ist unübersehbar. Und trotzdem darf man nicht vergessen: Zum dritten Mal in seinem Leben fängt er in einem fremden Land ganz neu an. In einem Land, in dem er die Sprache noch nicht spricht und wo er noch keine Freunde hat. Und er vermisst seine Familie. «Grundsätzlich bin ich ganz gern allein. Aber natürlich, manchmal fühle ich mich auch einsam. Doch ich weiss, wofür ich dies alles tue. Und ich weiss auch, dass ich hart arbeiten und manchmal verzichten muss, wenn ich meine Ziele erreichen will. Das ist als Fussballer nicht anders, als als Arzt. Wenn ich es nicht tue, tut es niemand für mich.» Ausserdem, meint er, habe er kein Recht, sich zu beklagen: «Es gibt Millionen von Jugendlichen, die alles dafür geben würden, um da zu sein, wo ich jetzt bin. Allein zu sein, gehört eben dazu.» Und am Ende habe dies auch seine positiven Seiten: So werde man schneller erwachsen, weil man vieles selbst machen müsse. Kochen, zum Beispiel.

Die Verbindung zu seiner Familie pflegt er per Telefon. Mit seiner Mutter tauscht er täglich Neuigkeiten aus. «Zudem kommt mein bester Freund aus Turin regelmässig zu Besuch. So auch letzte Woche, als er sich das Derby angeschaut hat. Er bleibt jeweils drei, vier Tage und fährt dann wieder nach Hause.» Und nächsten Sommer will er dann auch wieder seine Familie und seine Freunde in Senegal besuchen und für ein paar Wochen das Leben dort geniessen.

Wie sich denn das Leben im Senegal von demjenigen in der Schweiz unterscheide? Kaly lacht. Nun, die Schweiz sei eben schon anders, erklärt er. Anders als sein bunter und quirliger Senegal. Und auch anders als Turin, wo die Leute gerne rausgehen und sich alle in der Innenstadt treffen. Und mit seinem spitzbübischen Lachen erzählt er, wie er mit seinen Freunden darüber witzelt, sich nach Ende seiner Karriere in der Schweiz niederzulassen. Dabei wird deutlich, wie unvorstellbar es für ihn ist, sein Leben in der hochgradig geordneten Schweiz zu leben. Und es wirkt äusserst sympathisch, wie er sich geradezu liebevoll über die hiesige Ruhe und die gesellschaftliche Zurückhaltung amüsiert, wie er damit aber gleichzeitig auch seine grosse Wertschätzung dem Land gegenüber zum Ausdruck bringt. «Es ist wirklich sehr ruhig hier», sagt er, jetzt wieder ernster. «Die Leute bleiben gern in den eigenen vier Wänden. Eigentlich passt das ganz gut zu mir. Und, man kann hier ein sehr, sehr gutes Leben führen.» Und plötzlich scheint es gar nicht mehr so abwegig, dass er hier eines Tages sesshaft werden könnte. Und vielleicht kann er dann ja auf eine lange, erfolgreiche Karriere zurückblicken. Es wäre ihm zu wünschen.

Am Ende des Gesprächs bleibt die feste Überzeugung, dass dieser junge Mann seinen Weg machen wird und dass er es sich mit Bestimmtheit verdient haben wird, wenn er dereinst seinen fussballerischen Traum verwirklichen kann. – Traum? «Nein, ich habe zwar ein grosses Ziel. Das würde ich aber nicht als Traum bezeichnen. Mein einziger Traum ist, dass ich mit meiner Familie zusammen sein kann und dass meine Eltern stolz auf mich sind.» 

 

Maurice Desiderato 

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